Charles Gleyre, Les Romains passant sous le joug, 1858
Formen der Macht
Machtverhältnisse stehen im Zentrum der Geschichte von Gesellschaften, die ihrerseits durch vielfältige, sich überlagernde und nebeneinander bestehende Netzwerke sowie durch sozio-räumliche Wechselwirkungen konstituiert sind. Macht, definiert als Fähigkeit einer Person oder einer Gruppe, auf das Verhalten anderer einzuwirken, kann sozialer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller, physischer, symbolischer oder ideologischer Natur sein. Die möglichen Fragestellungen zu diesem Thema sind vielfältig: Wie wird Macht ergriffen? Und wie gelingt es den Akteuren in der Folge, diese Macht über andere zu erhalten? Wie wird Macht ausgeübt und welchem Wandel unterliegen ihre Formen und Orte in einer diachronen Perspektive? Wie wird sie reproduziert und welcher Vermittlungs- und Reproduktionsträger bedient sie sich? Was kann Macht entgegengesetzt werden? Und welche Möglichkeiten gibt es, sich ihr zu entziehen?
Besonders fruchtbar ist der Machtbegriff für die Analyse historischer Prozesse: Er lässt sich durch alle Epochen hindurch anwenden, auf der Makroebene zur Beschreibung von historischen Kontinuitäten und Zäsuren ebenso wie in Untersuchungen zu historischen Mikroprozessen, die soziale Beziehungen im Blick haben. Der Machtbegriff lässt sich in verschiedene methodologische Ansätze einbringen, so etwa in Netzwerkanalysen oder in eine Historische Soziologie des Politischen. Und schliesslich kann die Frage der Macht in allen historischen Forschungsfeldern untersucht werden, von der Geschlechtergeschichte über die Kultur- und Sozialgeschichte bis hin zur Politik- oder Religionsgeschichte
Darüber hinaus lässt das Thema Überlegungen zur Macht der Geschichte als Disziplin sowie als Triebfeder für gesellschaftliche und politische Debatten zu. Indiesem Sinne sind die Schweizerischen Geschichtstage 2016 ein wichtiger Anlass für die Gemeinschaft der Historikerinnen und Historiker, um über ihre Identität und ihre Rolle in der heutigen Gesellschaft nachzudenken.
Institutionen und Orte der Macht
Auf einer ersten Reflexionsebene sollen die traditionellen, wenn auch ständig im Wandel begriffenen Machträume analysiert werden. Im Zentrum können dabei die Organisation und die Funktionsweise von Institutionen wie etwa der zivilen Behörden, Bistümer, Ordenskapitel und Kirchengemeinden, militärischen und rechtlichen Hierarchien, inter- und transnationalen Organisationen, Universitäten und Schulen, Träger von Biomacht etc. stehen. Neben den symbolträchtigen Orten der Souveränität sollen auch die Entstehungsbedingungen und die Rolle kollektiver Akteure näher beleuchtet werden, die im Namen sektoraler Interessen oder alternativer Werte Einfluss auf die Machtrepräsentanten nehmen. In einer solchen Perspektive lassen sich Studien zusammenfassen, die sich beispielsweise mit Parteien, Ordensgemeinschaften oder Interessensgruppen aller Art beschäftigen. Ein komplementärer Ansatz soll sich der dia- und synchronen Analyse der Gegenmächte und ihrer Interaktionen widmen. Diesbezüglich wird oft auf die Rolle der Medien als «vierte Macht» verwiesen, aber auch andere Handlungsträger oder Formen rechtlicher, wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Macht können aus einer ähnlichen Perspektive betrachtet werden. Und schliesslich kann auch der Begriff «Ort der Macht» unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert werden. Hier stellt sich die Frage, wie regionale, nationale und supranationale Orte der Macht interagieren und wie sich solche Verflechtungen beispielsweise im Kontext von Kolonisation oder Globalisierung entwickeln.
Modalitäten der Entscheidungsfindung und deren Durchsetzung
Neben den Organisationsformen der Macht eröffnet sich durch die Betrachtung der Entscheidungsfindungsmodalitäten auf der Mikro- und Makroebene ein weiterer Ansatzpunkt möglicher Analysen. Bei der Machtausübung, sei es innerhalb der Familie, der Politik oder der Wirtschaft, kommt oft ein komplexer Prozess in Gang, der sich nicht nur innerhalb der expliziten rechtlichen, institutionellen oder gewohnheitsmässigen Regeln und Verantwortlichkeiten abspielt. Entscheidungen bleiben nie auf eine einseitige Handlung beschränkt, die von oben nach unten ausgeführt wird; sie durchlaufen vielmehr verschiedene Stadien und gehen mit Verhandlungsphasen einher, die die erwarteten Reaktionen betroffener Personen oder sozialer Gruppen berücksichtigen und antizipieren. Nicht selten stehen die am Entscheidungsprozess beteiligten Akteure ausserhalb der führenden Organe einer Gruppe und handeln diskret oder sogar im Geheimen. Es handelt sich hierbei um das weite Feld der Einflussnahme, zu dem beispielsweise Korruptionsmechanismen gehören.
Ein komplementäres Forschungsgebiet bilden die verschiedenen Formen der Kommunikation und der Ausführung von Entscheidungen, die oft mit den religiösen, militärischen oder auch politischen Instrumenten der öffentlichen Gewalt verbunden sind. Nicht zu vergessen ist auch die Bedeutung kultureller Objekte und Praktiken, die eng mit der Machtausübung und -erhaltung verknüpft sind, so beispielsweise Rituale, ihre Embleme und Repräsentationen. Darüber hinaus stellt die symbolische oder charismatische Dimension der Macht ein besonders dynamisches Forschungsgebiet der aktuellen Geschichtsschreibung dar, in dem Hofzeremonien der Feudalgesellschaften ebenso untersucht werden wie modernere Arten der Propaganda, der politischen Kommunikation und der kulturellen Diplomatie (Soft Power).
Institutionalisierung und Bekämpfung von Machtformen
Welche Positionierungen zur Macht gibt es? Die Bandbreite reicht von überzeugter Zustimmung oder erduldeter Tolerierung über Formen der Opposition und des Widerstandes bis hin zu verschiedenen Umgehungsarten. Die Mechanismen des Gehorsams oder der Zustimmung werfen die Frage nach der Legitimität von Machtformen auf: Macht kann von einer Instanz oder einer Gruppe autoritär aufgezwungen werden oder aber auf einer vertraglichen Basis beruhen, der das Kollektiv freiwillig zustimmt. Hierbei gilt es, die Macht – oder vielmehr die Formen der Macht – in ihrer Vielfältigkeit und ihren zahlreichen sozialen Interaktionen zu betrachten.
Selbst ausgehandelte Formen der Macht kennen Gegner und Kritiker. Ein weiterer Ansatz hinterfragt die Strategien der Opposition – seien diese nun institutionalisiert oder nicht, legal oder illegal, friedlicher oder gewalttätiger Natur – sowie die Bedingungen ihrer Umsetzung und die damit verbundenen Formen der Mobilisierung. Die Analyse soll sich dabei nicht auf den politischen Rahmen beschränken, sondern auch Formen des Ungehorsams in ganz unterschiedlichen Bereichen wie der Arbeitswelt, der Kunst, der Schule, der privaten Umgebung, den Geschlechterbeziehungen oder dem intellektuellen und wissenschaftlichen Milieu berücksichtigen. Ein Ansatz, der die «Umgehung» von Macht in den Blick nimmt, erlaubt es, die institutionelle Perspektive mit dem Interesse an Praktiken und Bräuchen zu kombinieren und so die Vielfältigkeit der Verhaltensweisen und der Haltungen gegenüber der Macht und ihren Normen aufzugreifen.