wirtschaft.macht.gesellschaft. Interdisziplinäre Analysen zu Verflechtungen und Verschiebungen von wirtschaftlicher und politischer Macht in der Schweiz seit den 1970er-Jahren
Freitag, 10. Juni
09:15 bis 10:45 Uhr
Raum 3032
1983 publizierte Hans Tschäni die Studie „Wer regiert die Schweiz?“ Darin kritisierte er die enge Verflechtung des Staates mit wirtschaftlichen Kartellen sowie die Selbstaufsicht der Banken. Der Publizist analysierte, wer mit welchem Auftrag im Parlament politisierte und wie die „Filzokratie“ demokratische Prozesse unterlief. Diese Analyse der Machtverhältnisse der späten 1970er Jahre ist Ausgangspunkt für eine zeitgeschichtlich-ethno-soziologisch fundierte Analyse der seitherigen Entwicklungen und ihrer Ursachen. Wie spielen die fortgesetzte Globalisierung und ein härter gewordener Standortwettbewerb ins inner-schweizerische Machtgefüge hinein? Stimmt die Vermutung, wonach Großindustrie und Finanzkapital die Politik (weiter) „vereinnahmt“ haben? Oder haben wir es mit vermehrten Spaltungen und Macht-Verschiebungen zu tun – etwa von der traditionellen Industriemacht hin zur Macht des Rohstoffsektors? Und welche Rolle spielt dabei die Finanzbranche?
Der erste vorgesehene Panel-Beitrag spürt den Machtverflechtungen des Finanzkapitals nach. Angesichts gegenwärtiger Entwicklungen erscheint die Polarisierung „Finanzplatz gegen Werkplatz“, wie politische Akteure sie 1978 in der Folge von massiven Währungsgewinnen der Banken bei gleichzeitig stockenden Industrieexporten vornahmen, überraschend aktuell. Gemäss wirtschaftshistorischer Lesart führten der Zusammenbruch von Bretton Woods und die Liberalisierung der Finanzmärkte zur Entfesselung eines „Finanzkapitalismus“ von neuer Qualität (Jürgen Kocka 2013). Was enthüllt oder verbirgt diese Chiffre über das Verhältnis von wirtschaftlicher und politischer Macht, wenn man sie auf eine direktdemokratische Gesellschaft mit einem der wichtigsten Finanzplätze im 20. Jahrhundert anwendet und ZeitzeugInnen seit dem Chiasso-Skandal von 1977 zu Wort kommen lässt?
Mit bisher unterbelichteten Dimensionen der Finanzbranche befasst sich der zweite geplante Beitrag, der den Aufstieg der Schweiz zum weltweit wichtigsten Zentrum von Rohstoff-Macht nachzeichnet. Nebst der Rolle Genfs ist für die Periode seit den 1970er-Jahren die Entwicklung im Kanton Zug aufschlussreich, wo eine steuerliche Privilegienpolitik die Ansiedlung von Tradern wie Philipp Brothers (Phibro) begünstigten. Der Take-off begann jedoch erst mit dem Phibro-Sprössling Marc Rich & Co. AG. In einer einzigartigen politisch-wirtschaftlichen Gemengelage – bei der Angehörige der Zuger politischen Elite sich mit Verwaltungsratsmandaten und in wohltätigen Stiftungen eng mit der Rohstoffmacht verbanden – wurde aus dem Industriestandort nicht nur ein Erdöl- und Metallhandelsplatz erster Güte. Sondern es entstand ein rhizomförmiges Cluster, das auch spezialisierte juristische und Finanzdienstleistungen sowie Aus- und Weiterbildungen beinhaltet. Weitere Beiträge, die sich für den Dialog mit einer diachron argumentierenden Macht- und Wirtschaftssoziologie interessieren, sind herzlich willkommen.